Ikaros, oben



Ikaros fällt, weiß Daidalos, denn alle fallen, so wie er selbst, der Einfallsreiche, alt jetzt, fallen wird.
Nur Götter fliegen und Vögel, Heroen in geflügelten Schuhen mit Hilfe der Götter fliegen am Haken, wenn ihr Schicksal es will.
In des Vaters Gestell dem Vater nach fliegt Ikaros, mit Vögels Resten, mit vernähtem Gefieder an Bändern und Bein; gleichviel, er fliegt, er fliegt.
Ikaros fällt, soviel ist sicher, denn oben blieb nicht einer.

Daidalos ist Kreter, gewesen nach Wunsch, will weg, ist Kretas müde. Ikaros ist Kreter, doch er weiß es nicht.
Er kennt nur Treppen, Türme, an Mauern Prozessionen weißer Frauen, Tänze und den roten Staub aus Süden, Stiere, rote Männer, wenig Gras.
Komm nach Attika, da gibt es viele Dächer. Was, Vater, ist Athen? Die Welt mein Junge, weißer Staub und viele Steine,
abends Rebhuhn unter Weinlaub, dann Oliven, und springende Figuren, Männer ganz aus Bronze, Maschinen, die dein Vater baut.
Du wirst die Welt sehen...

Er wird die Welt sehen. Erst das Meer, sein nie gesehenes helles, dunkles Blau, dann Inseln, hellgelbockergrün in weißen Ringen,
dazwischen jenes Wunders Wunder, die Delphine, Rochen, Riesenkraken, drüber hin zwei Schatten ziehen. Dann blaue, weiße, schwarze Schiffe
unter Segeln, weiß und schwarz und rot, rot alle, wenn die Sonne niedergeht, und Schiffe, Boote ihre aufgemalten Augen niederschlagen.
Dann kommt diese weiße Stadt, darin Laternen wandern und das Werkzeug spricht: Sieh doch, am Himmel, das ist Ikaros...

So sprechen Väter, selbst die klugen, so, eh er von der Mauer springt, spricht Daidalos:
Bleib in der Mitte des Weges, dass nicht das Wasser dich herabzieht an den schweren Schwingen, steig nicht so hoch,
dass dich das Sonnenfeuer fassen kann und hinunter schickt als Fackel. Halt dich von beidem fern, und wenn Du fällst,
dann fall kopfüber und wenn Du unten bist, ruf mich und halte still, ich rufe die Delphine... Halte aus mit deinen Kräften,
mache es wie ich und folge auf der Bahn mir nach.
Sieh an, denkt Ikaros, der Alte fliegt mit kurzen, krummen Beinen, Löchern in den Schuhen, langsam, doch er fliegt.
Na bitte, dacht ich doch es geht, es geht ganz einfach. Und er springt ihm nach.

Ein Kuss noch auf die Stirn und feuchte Augen... Was er hat, der alte Fuchs. Sie lieben mich, die Mädchen,
ich brauch es nur zu sage, wenn ich erst wieder unten bin. Der König wird mich loben, weil ich oben war,
vor seinen Hauptleuten in Schurz und eberzahnbehelmt, und die Königin wird ihn anstoßen: Mach Platz für den Gast, ey,
wenn ich erst wieder unten bin, und kein Vogel kommt mir dann zu nahe, und meine Arme werden gewachsen sein
und der Wind wird mir zublinzeln und ich blinzle zurück. Kennen wir uns, werde ich sagen, bin ich erst wieder unten,
etwas freundlicher beim nächsten Male, Herr Boreas!
Nein, nachtragend bin ich gar nicht, nur meine Arme, werde ich sagen, die armen, wenn ich erst wieder unten bin,
bei den Schafen, den dunklen, gefleckten, kugligen, kleinen da unten, glücklich im Gras.

Ah, Wolken, nein, ein Drachen. Jetzt ein Tier mit Buckel, nein, mit zweien. Gibt’s Schildkröten am Himmel?
Das da unten ist doch eine, fleißig rudert sie nach Norden, merkt die Schatten gleichfalls nicht. Umgedreht wär sie ein Boot,
mit zweien könnt ich laufen, wären's drei, ich führe im Gespann, ein kleiner Meermann zwischen Inseln.
Schön seien die Meerfrauen, aber zu meiden, sagt Daidalos. Theseus, Mann des langen Messers, war bei ihnen unten im Palast.
Wie er wieder rausgefunden hat, ganz ohne Licht und Faden, aber mit dem Ring des Minos?
Er wäre Sohn des Pferdegotts und Sohn des Meeres, das sagt Vater, Sohn des Gottes mit dem Dreizack, der die Erde beben lässt:
Poseidon. Bin ich niemand? Der da unten sieht jetzt hoch, ein Pflüger. Was er sieht sind Götter oder Vögel aus der andern Welt, aus Dortwo.
Ich, schreit der Knabe, hey, ihr da, ich bin Ikaros.

Noch zwei Hirten sehen das sanfte Gleiten, hören Vögel von Ikarien pfeifen. Wenn es regnet, gehen wir runter.
Was ist Attika? Ein Wunsch des Vaters. Ich soll die Welt sehen, mein Grund ist seiner, eine Werkstatt, graue Haare, gib und nimm,
komm her und mach – . Ikaros kennt die schwarzen Blicke, Stühle, Räderstiere. Sein Grund ist nicht meiner.
Ich bin nicht Schmied und meine Hände haben Beine. In neuen Schuhen fliege ich dem Alten hinterher, schweißglänzend.
Wer bin ich? Künftig Lehrling, blaue Flecken im Gesicht, der macht, was Vater machte, Spielzeug und Geräte.
Will ich das? Ich fliege... Hui, aufwärts, wieder runter, hoch, Fisch bin ich in der Luftsee, der blau und ockerrote Vogel,
Gaukeltaucher, der den Walfisch narrt, Schaum in den Adern, reines Glück.

Die Welt ist groß, das Leben ist ein Wunder. Lern ich Flügelmachen oder stehl ich Flügel, stehl sie bei dem Besten...Pass auf, wo Du hinfliegst!
Das ist Vater. Müde schaut er aus, schlägt mit den Flügeln nur noch langsam, sieht mit Sorge um sich. Wir könnten runter, wenn es regnet, doch es regnet nicht.
Die Sonnentochter mochte ihn und mochte mich; was soll ich fürchten, oben? Blau ist der Himmel, ich bin schnell und werde immer schneller.
Wie rufe ich Delphine, wenn des Meeres nasse Finger nach dem Vater greifen, wie jetzt eben, doch, die meinen's ernst...
Und abwärts stürzt der Junge, greift mit den Zähnen in des Vaters Gurt und zieht ihn aufwärts, bis die Luft ihn trägt, bis beide segeln, lange.
Vor uns, das ist Attika, braunes, gelbes Land aus Drachenzähnen, grünen Flicken, hellen Wegen. Weiß, das sind die Steine, Städte, Rauch steigt auf, Geschrei.

Abwärts gleitet Daidalos, aufwärts Ikaros. „Komm!“, so ruft der bekümmerte Vater, nicht mehr Vater jetzt, er ahnt es: „Wo bist du?
Wo soll ich dich suchen? Ikaros!", da eben in verwegenen Bögen der Junge in den Himmel schießt, ein Punkt noch vor der Sonne, dann verschwunden ist.
Ikaros bleibt oben, sieht das Moos der Wälder, Laub der Jahreszeiten, hoch im Kaukasus den Schnee, der Flüsse Weg, die Spuren in der Wüste,
die der Wind macht oder Herakles gemacht hat, große Löcher, Blut und Städte, Städte, Holz und Asche... Um zu hören den Gesang der Küsten,
der Küsten Wogenwechselschläge, wie die Steine kollern, aneinander reiben, um zu schmecken Regen, Früchte, fremdes Brot und Salz.
Daidalos indes, der Meister, von den goldenen gestützt, den Mädchen, die er gemacht, geht an die Arbeit, bessere Flügel machen.

Ikaros? Ein guter Schmied, die Enkel siedeln hier noch allenthalben...

Gregor Kunz, nach Ovid und anderen


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